harry meyer malerwelten frutiger

Museumstour

Zur Ausstellung "Harry Meyer, Im Dialog", Museum "Alte Universität", Eppingen"

von Brigitte Herpich

Es ist nicht das erste Mal, dass der Künstler Harry Meyer seine Werke in einem Museum präsentiert: Vielmehr führt er eine Tradition fort, die er vor zehn Jahren im Diözesanmuseum in Eichstätt begründet und die er mittlerweile an den verschiedensten Orten der Museumslandschaft fortgesetzt hat. Seine aktuelle Ausstellung führt ihn in das Stadt- und Fachwerkmuseum "Alte Universität" im baden-württembergischen Eppingen, ein repräsentatives Fachwerkhaus aus dem späten 15. Jahrhundert. Harry Meyers Plastiken und Ölgemälde begegnen dort den Zeugnissen der regionalen und lokalen Geschichte, und ebenso dem Gebäude als solchem und seinem „genius loci,“ dem „Geist, der an einem Ort herrscht“; mit anderen Worten: der konkreten und jeweils eigenen Realität, welcher der Mensch an einem bestimmten Ort gegenübersteht, mit der er sich auseinandersetzen und mit der er letztendlich zu Rande kommen muss.

Ein Ort ist also ein Raum mit einem bestimmten eigenen Charakter – welchen Charakter nun hat ein Museum, und was ist die besondere Wesenheit von Räumen in einem gotischen Fachwerkhaus? – Lassen wir uns von Harry Meyers Werken leiten. Die Architektur der Gotik, als deren herausragende Schöpfung die Kathedrale gilt, ist gekennzeichnet durch die Betonung der Vertikalen, des Strebens zum Himmel. Der Preis für die Verwirklichung schwerelos erscheinender Räume waren ebenso diffizile wie labile Gewölbe, für die ihre Erbauer an die Grenze des Machbaren gehen mussten – und immer wieder über ihre eigenen Grenzen hinaus. Die Himmelsgewölbe auf Harry Meyers von Sternenlicht durchfluteten Nächten spiegeln dieses Streben nach dem Himmel wider: Himmelsleitern gleich winden sich Stränge materialisierter Energie nach oben; ob es sich dabei um die Lebensenergie der Erde, diejenige der in ihr wurzelnden Bäume, um gestaltgewordene Lichtenergie oder um eine symbiotische Verbindung all dieser Energien handelt, lässt der Künstler offen – es ist auch nicht wichtig. Gleich der Natur, die mit der Dämmerung in die Umarmung der Nacht zurückkehrt, ist dem Betrachter des Himmelsgewölbes der Atem des Universums, wenn auch ungreifbar, so doch spürbar und präsent. Es entstehen, in einem Zusammenwirken von musealem Raum und Bildraum, eine ganz eigene Stille und Ruhe, die ein tiefes und tiefergehendes Wahrnehmen wieder möglich machen. Das Licht in Harry Meyers Bildern – sei es der mitreißende Lichtsog in den „Lux“-Gemälden oder das Funkeln einzelner Sterne am nächtlichen Firmament – lässt die Erinnerung daran wieder aufflammen, dass mit dem Licht auch die Orientierung im Raum „aufdämmert“. Und es schließt auch den Kreis zum Raum, im vorliegenden Fall zu dem des Museums: Der „vorgefundene Behälterraum“ verändert sich, er ist „nicht länger das homogene dreidimensionale Gefäß zur Unterbringung von Sachen und Lebewesen“. Er erfüllt, im Dialog mit der Kunst, seine Potentialität.

Was die Welt zusammenhält

Die Malerei und Skulptur des Harry Meyer

von Rüdiger Heinze

I.

Wann wohl setzt eine künstlerische Biographie ein? Und in welchem Moment entscheidet ein Künstler, wann seine künstlerische Biographie eingesetzt hat? Sicherlich nicht erst zu dem Zeitpunkt, da einer seine „Handschrift“ und damit sich selbst findet. Aber wann dann? Mit der ersten nicht verworfenen Schöpfung, die nach ihrer Fertigstellung zumindest einen gewissen Grad an Zufriedenheit, vielleicht sogar innere Freude hinterließ? Mit dem ersten öffentlich präsentierten Werk? Also mit so etwas wie Opus 1? Oder setzt eine künstlerische Biographie – ganz prosaisch – mit Beginn oder Abschluss des Studiums ein? Dieses ist im Fall des Malers und Plastikers Harry Meyer, um den es hier geht, zunächst einmal ein Studium der Architektur gewesen (1988 – 1993). Gerade bei ihm darf dieser Hinweis nicht außer Acht gelassen werden. Aber noch ein anderes wesentliches Moment sollte nicht unberücksichtigt bleiben in der Entwicklung Meyers und seiner Kunst der vergangenen 25 Jahre. Es ist in seiner oberpfälzischen Kindheit begründet, in den Erfahrungen an der Seite seines Großvaters, der die erklärbaren und unerforschten Naturkräfte gleichermaßen in das tägliche Leben einband – wie Wassersuche mit der Wünschelrute. Vermittelt wurde dem Buben Harry (*1960) eine Welt, in der physische und metaphysische Kräfte, Spannungen und (Über-)Mächte nebeneinander, ja miteinander wirken. Auch davon wird die Rede sein müssen, wenn hier ein Blick auf rund 25 Jahre Kunst aus der Hand Meyers geworfen wird. Und es wird die Rede davon sein müssen, wie diese arbeitenden Kräfte austariert werden. Doch zunächst sollten wir uns eine Sicht auf das verschaffen, was Meyer malt und formt. Und dann sollten wir genau erkunden, wie er dies tut – bevor die schwierigste Fragestellung angegangen werden kann: wozu?

II.

Also: Was malt und formt Harry Meyer? Die nicht ausdifferenzierte Antwort hat zunächst etwas Lapidares an sich. Meyer malt und formt nichts anderes als das, was schon Generationen von Künstlern vor ihm schufen: Landschaft, Mensch, Himmelsdarstellungen, Gartenbilder, Stillleben. Letztlich Szenen von Natur und Welt. Dies scheint obsolet geworden in unseren Tagen, da sich Kunstbegriff und Kunstdiskussion nicht nur durch die neuen Medien immerzu erweitern. Meyer widmet sich im Wesentlichen den traditionellen Bildgattungen, und bezeichnend bleibt, dass ihm der Begriff „Gemälde“ mehr zusagt als das Wort „Bild“. Betrachter von Meyers Gemälden können sich sogar doppelt verwundert geben, da sie nicht selten konkrete Motivvorgaben im Titel tragen: „Mein Garten“, „Selbst“, „Streuobstwiese“, „Sonne“, „Mond“, „Sterne“. Bleibt all das noch bildwürdig und von Interesse nach Jahrhunderte währender Deklination? Wird von der Kunst heute nicht vor allem erwartet, dass sie fortschreite in der Aufklärung von Gesellschaftszusammenhängen, in der kritischen Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen, in der überhöhenden Beobachtung steter Lebensumbrüche? Andererseits gilt: Sicht und Darstellung von Natur und Mensch scheinen unerschöpflich. Auch noch nach Liebermann, Nolde, Winter und Schumacher gibt es neue individuelle Betrachtungsweisen und damit neue sich behauptende Zugänge zur Galerie der Landschafts- und Menschenmalerei. Ganz abgesehen einmal von dem Umstand, dass Meyer in seinen Landschaftsgemälden das abbildet, was in der Realität abnimmt: unberührte Natur. Sich Unabhängigkeit nehmend, schiebt der eigenwillige Maler manches Recht, manche Scheinpflicht der zeitgenössischen Kunst beiseite und liefert so etwas Gegenläufiges wie Beiträge zur Natur- und Menschendarstellung - selbst das „Mutter und Kind“-Motiv, das ja jederzeit auch als Madonnenbildnis begriffen werden kann, nicht ausklammernd (1994).

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III.

In engster Verbindung mit seinen Motiven steht natürlich die Art und Weise, in der Harry Meyer malt. Er arbeitet im Wesentlichen ja nicht aus kontemplativer, beschaulicher, idyllischer Warte und Haltung heraus, sondern in dramatisierender Bekräftigung dessen, was er wahrnimmt. So, wie er als Persönlichkeit plötzlich heftig werden kann, so gestaltet er in aller Regel heftig seine Bergpanoramen, Regenfluten, tektonischen Verwerfungen, ausschlagenden Pflanzen, Himmelsenergieentladungen und Kopf-Zermalungen. Man schaue auf das Bergpanorama (Berge, 2011, 55x140 cm) und seine verborgene Statik und auf sein „Berge Energie“ (2001), da Urkräfte walten zwischen Himmel und Erde. Man sehe auf das „Hiberna“-Gemälde von 2006, da die Elemente in richtungsloser Welt-Totalität wüten, und auf die fordernd-raumgreifenden Zweige sowie scheinbar klammernden Tentakel seiner („Garten“-) oder „Baum“-Bilder und „Stillen Leben“. Man blicke auf die kosmischen Spiral-Strahlungen seiner „Stern“-Gemälde und auf den „Kopf“ von 1999, wo der Pinsel wie ein Skalpell dem aufgerissenen, rohen Fleisch nachspürt. Wie bei Rainer, Bacon, Saura sind hier Drastik und Schmerz keine Grenzen gesetzt, ja, Dramatik schlägt in Tragik um. Insofern stapelt Meyer tief, wenn er formuliert: „Wenn ich also Landschaft beziehungsweise Natur male, male ich auch den Menschen mit seinem Raum, in dem er sich entwickelt hat, male ich auch den Blick des Menschen durch den Raum, in dem er lebt und hinter den er mit seinen Fragen zu gelangen versucht.“ Zu dieser Selbsterklärung gehört eben zwingend die Ergänzung, dass Meyer die Naturgesetze, Zusammenhänge und Räume, die er malt, in mehrerlei Hinsicht eruptiv auflädt. Zumal die neueren Blumenbilder aus der Werkreihe „Stilles Leben“ erheben den Anspruch auf ein Höchstmaß an Präsenz, Reiz, Spannung.

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Was aber nun kennzeichnet den Pinsel-Duktus von Harry Meyer, sein dramatisches Ziehen und Schieben der Erde, seine Himmelsschauspiele, seine Baum-Triebkräfte, die mimischen Spannungen seiner „Kopf“-Bilder? Auch dabei erweist er sich als eigenwillig und unabhängig gegenüber allen Zeiterscheinungen. Selbst wenn er in den vergangenen Jahren seine dezidiert pastose Malerei, sein – unserer Zeit fremdes – Auftürmen von Farbmaterie eine Spur reduziert hat, viel mehr unterschiedliche Pinsel-„Handschriften“ und Pinselstrichstrukturen mixt, ja aufeinander prallen lässt, so bleibt festzuhalten: Indem er seine Gemälde und Bildwerke modelliert, ihnen plastisch und reliefhaft Volumen verleiht, legt Harry Meyer – mal offen, mal verdeckt – dar, welche brodelnden Kräfte, pulsierende Stromfelder, konstruktive Spannungen seinen dramatischen Stoffen inne wohnen. Ist es in den Landschaftsdarstellungen ein tektonisches Zerren und Drücken, das an die oberste Erdschicht drängt, so sind es in den Himmelsentladungen und „Stern“-Bildern regelrecht begreifbare, ausgeschleuderte Farb- und Lichtstrahlen. Scheint Meyer in seinen enigmatischen, kaum Vergleichsmotive in der Kunstgeschichte kennenden „Inkubator“-Gemälden den bewussten oder unbewussten geistig-emotionalen Austausch zwischen Schädeln zu erörtern, so forscht er bei seinen „Kopf“-Bildern subkutan nicht nur nach dem Gefüge und den Versorgungssträngen des Lebens, sondern auch nach psychischen Kämpfen. Die Landschaft wird ihm zur Hülle erdgeschichtlicher Anatomie, das Angesicht zur seelischen Landschaft – durchgehend basierend auf Überlegungen zu Aufbau, Konstruktion, Statik. Und in jedem seiner Bildmodelle steigert sich massive Farbmaterialität zu einem massiven Energieträger. Dynamischer Inhalt und fassbare Form der stets verdichtet-abstrahierten Malerei bedingen sich gegenseitig. Ja, der Furor und die Wucht dieser Kunst, die alles andere als überraschend auch „Vulkan“-Darstellungen kennt und seit geraumer Zeit Beunruhigung in harter, explodierender, toxischer Farbigkeit sucht, erreichen Doppelwertigkeit. Sie stehen für Werden und Vergehen, Zerstörung und (Neu-)Schöpfung – und damit auch für den Kreislauf der Elemente im aristotelischen Sinn. Meyer setzt sowohl das Vorzeitliche als auch das Endzeitliche und das Überzeitliche in Szene.

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IV.

Parallel zu den überbordenden Stillleben hat Harry Meyer in den vergangenen Jahren Schädel bemalt. Totenschädel, das sei hier vermerkt, die die Artikel-Nr. NC-1089 der Firma newgen medicals tragen. Aus Plastik werden sie für Unterrichtszwecke produziert. Ihre Kiefer sind beweglich, man kann sie auch abnehmen, um Anatomie und Funktion zu studieren. Meyer nutzt diese Variationsmöglichkeiten, verändert zudem durch hinzugefügtes Pappmaché und Holz die Volumen der Schädel, bevor er sie mehr oder weniger stark mit Stoff, mit Leinwand bandagiert. Final liegen die Schädel nun geschichtet da wie in einem Beinhaus, einer Katakombe, einer kollektiven Grabkammer, die den Betrachter mahnt. Durchaus nicht alle Schädel hat Meyer modellierend bemalt – und so ist die Ansammlung deutbar auch als eine Beleuchtung unterschiedlicher Verwesungsstadien – von der ausgebleichten, knochentrockenen Hirnschale über den mumifizierten Schrumpfkopf bis hin zum schillernd sich zersetzenden Haupt, bei dem der biologische Verfallsprozess womöglich unter Freisetzung giftiger Gase noch anhält. Hier ein schauriges Grinsen, dort ein konservierter Todesschrei. Meyers „Kopf“-Bilder, seine „Figurabilitis“-Plastiken: Sie scheinen auf diese Schädelhäufungen geradezu zugelaufen zu sein. Erneut gilt: Meyer lädt die Leinwand plastisch und die Plastik malerisch auf.

V.

Wie weit sind Meyers Blumenstillleben, deren ausschweifende Farbigkeit auch durch die Farbigkeit moderner Bildgebungsverfahren beeinflusst ist, entfernt von seinen Totenschädeln? Nicht weit. Beide Motive sind natura morta, künstlerisch wirksam angeordnet. Beide sind in der Kunstgeschichte traditionelle Symbole der Vergänglichkeit alles Irdischen, stehen für Memento mori und Vanitas. Wieder führt Meyer den ewigen Kreislauf von Leben und Natur vor: Gewordenes vergeht. Dass auch die Kerze bei Meyer als Sinnbild des Lebenslichts ein Vanitas-Motiv ist, bräuchte eigentlich nicht gesondert erwähnt zu werden. Würde es verwundern, wenn auf den „Stillen Leben“ neben Kerzen künftig auch Stundengläser auftauchen würden?

VI.

Wozu nun also malt der beharrlich beobachtende Meyer? Er malt, um die arbeitende und die beseelte Natur – und mit ihr Metamorphose und Transzendenz – ins Bild zu setzen. Seine Annäherung an Werden, Vergehen und Überführung erfolgt sowohl im Rahmen der bekannten (oder noch unerklärbaren) physikalischen, chemischen, biologischen Kräfte, die schöpfend zerstören und zerstörend schöpfen, als auch vor einem geistig-spirituellen Hintergrund. Darin schließt sich Meyer wie selbstverständlich einem Verdikt Caspar David Friedrichs an, das lautet: „Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.“ Wollte man Harry Meyers Arbeit der zurückliegenden 25 Jahre in einem lexikalischen Satz knapp zusammenfassen, so müsste die Sprache wohl davon sein, dass sein künstlerischer Wille darin besteht, mit den Mitteln abstrahierender, starkfarbiger, dramatisierter Pastos-Malerei jene Energien festzuhalten, die für den Wandel der Entwicklungsstadien, „Aggregat“-Zustände und Bewusstseinsstufen des Seins verantwortlich sind. Meyer sucht sich also anschaulich, erkenntnispraktisch, leidenschaftlich dessen zu vergewissern, was die Welt – wie stabil oder labil auch immer – zusammenhält. Dabei ist ihm die Welt genau genommen das Nebeneinander mehrerer Welten, mehrerer Weltbilder, mehrerer Weltsichten. Und jede Welt, die physische etwa genauso wie die metaphysische, jedes Weltbild, jede Weltsicht bleibt für ihn aus mehreren Perspektiven heraus zu behandeln – wenn nicht gar, wie in seinen „Regen“- und „Inkubator“-Gemälden, neu zu entdecken und zu umkreisen. So auch kam es zum Titel dieser Überblicksausstellung: „Malerwelten“.

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